Meine nächsten Termine

  • 19.07.2024: Vorstellung des neuen Seminarprogramms ZWW Uni Mainz
  • 22.07.2024: RC Camberg-Idstein, „Unter der Glückshaube“
  • 30.07.2024: Augustinum Königstein, „Unter der Glückshaube“

Kölner Sylvesternacht: Was kann Kirche tun?

06 Jan
6. Januar 2016

Blog 112/Januar 2016

Guten Tag,

aus dem aktuellen Anlass der Sylvesternachtsereignisse rund um Dom und Hauptbahnhof in Köln stellt sich die Frage, was die Kirche(n) zur Integration beitragen können.

Nagelprobe wird  die Aufgabe der Integration

Auf die Nothilfe, am besten parallel dazu, folgt der Integrationsprozess. Manche tun so, als sei dies mit dem Erlernen der Sprache getan. Das ist bei weitem zu kurz gedacht. Es geht es um die Frage, was uns essenziell also keineswegs aufgebensfähig, und was uns wichtig aber nicht essenziell ist. Und umgekehrt, was diejenigen, die sich in diese Gesellschaft  einleben wollen, an Wertvollem mitbringen, aus dem sich Schritt um Schritt ein neues „Wir“ formt. Dies ist kein Prozess, der durch gemeinsames Lesen des Grundgesetzes erfolgreich sein kann.

Kann Kirche hier durch ihre Gemeinden (sinnvoll verstärkt durch alle anderen kirchlichen Organisationen, die bereit sind, nicht von oben zu reden sondern lokal zu agieren) vor Ort eine wichtige Aufgabe ausfüllen, bei der es um die Formulierung und das Vor-Leben von Werten in einer offenen Gesellschaft geht?  Kann Kirche diese für die Zukunft der Gesellschaft zentrale Aufgabe  mit ihrem bisherigen Haupt – und ehrenamtlichen Personal bewältigen? Oder führt das Annehmen der Aufgabe nicht vielmehr zur Notwendigkeit  einer Kooperation mit allen Bürgern, auch und gerade denen , die nicht nur abseits der Kirche stehen, sondern auch Angst vor der Zukunft in dieser neuen deutschen Melange haben, auf die sich niemand vorbereitet hat ? Kirche wird in diesem Prozess ohnehin verändert. Es wäre für sie und die Gesellschaft besser, sie nimmt die Aufgabe an.

Dazu ist eine stärkere Öffnung zur Gesellschaft unvermeidlich. Mit ihrem bisherigen Ehrenamtspersonal wird die Aufgabe nicht zu bewältigen sein.

Mit besten Grüßen

Henning v. Vieregge

P.S. Der vorstehende Text ist ein Ausschnitt aus einem längeren Text zum Thema „Kirche, Ehrenamt und Flüchtlingsfrage“, der im Hessischen Pfarrblatt erscheinen  wird.

Malteser fordern auf, FDP hat’s verschlafen:Neujahrsvorsatz Engagement

04 Jan
4. Januar 2016

Blog 111/Januar 2016

Guten Tag,

natürlich weiß ich, dass im Januar die Sportstudios überfüllt sind. Das hört man immer wieder. Am eigenen Leib spüre ich die guten Vorsätze der Anderen beim morgendlichen Schwimmen. Neben den Sicht- und Grüßbekannten kommen Neue, aber die wenigsten schaffen es, vom einmaligen „Hurra, ich habe meinen Schweinehund überwunden“ Ereignis in die Regelmäßigkeit zu kommen. Die lautet: „Mist, ich habe heute verschlafen. Da fehlt mir was den ganzen Tag.“

Was ich noch nicht wusste: Beim Festival der guten Vorsätze zum Jahreswechsel fehlt auch die Absicht nicht, sich ehrenamtlich/bürgerschaftlich zu engagieren. Das jedenfalls sagt Lioba Abel-Meister, Leiterin des Ehrenamtsprogramms der Malteser in Frankfurt. Dass es diese Stelle gibt und dies bei den konservativ-katholischen Maltesern, zeigt: Immer mehr Organisationen der Zivilgesellschaft professionalisieren ihre Suche nach Freiwilligen. Die Malteserin: „Wir machen punktuelles Ehrenamt möglich… Wir halten die Arbeitszeiten flexibel.“ Ihr Rat: „Auf jeden Fall anrufen. Zum Nachdenken bleibt dann noch genug Zeit. Wir überreden niemanden.“(FAZ Frankfurt vom 3012.2015 S.30)

 

Dahrendorf und Dutschke

Manche Parteien haben die Veränderung beim Engagement  noch nicht begriffen.  Bekanntlich wird in Rheinland-Pfalz , in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt  am 13. März ein neuer Landtag gewählt. Gerade für die FDP steht viel auf dem Spiel. Sie muss  ihre Relevanzzuschreibung zurückgewinnen, sonst bleibt sie an der 5 Prozent Hürde hängen. Geht man auf die Seite der FDP Mainz und sucht den Button „Unterstützung“ oder „Sympathisanten“ oder „Engagement“, such man vergebens. Halt, da ist ein Button „Mitmachen“. Der aber führt zu einem Formular. „Aufnahmeantrag“. So zeigen ausgerechnet die Liberalen, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhundert mal als Partei nahe an Protest und Bürgerinitiativen stand (man erinnert sich an das berühmte Bild von Ralf Dahrendort und Rudi Dutschke im öffentlichen Streitgespräch), dass sie vor lauter Selbstbeschäftigung den Anschluss an die Entwicklungen in der Zivilgesellschaft verpasst haben. Leider. Und die anderen Parteien?

Mit besten Grüßen

Henning v. Vieregge

 

Die Stimmung in der Flüchtlingsfrage darf nicht kippen/Ideen sind gefragt/Wir brauchen mehr als gutes Management

06 Dez
6. Dezember 2015

Brief 110/Dezember 2015

Guten Tag,

kippt die Stimmung? Ein Indiz dafür ist, dass sich eine Frage  tief in den Argumentationshaushalt der Hiesigen eingräbt: „Warum sollen unsere Soldaten in Syrien sterben, während junge Syrer Unter den Linden Cappuccino schlürfen?“ Der neue polnische Außenminister, der einer gerade gewählten Regierung einer rechten Mehrheit angehört, die sich der moralisch eingekleideten Aufforderung der Kanzlerin hartnäckig widersetzt, das ihr rechnerisch zugemessene Kontingent an Geflüchteten aufzunehmen, hat diese Äußerung getan. Natürlich wurde er dafür kritisiert und verlacht. Eine Empörungswelle schwappte. Aber sie verlief sich  schnell. Der erste Zeitungsbeitrag, war es in der ZEIT und in der FAZ, wies darauf hin, dass Exilarmeen fester Bestandteil der polnischen Geschichte sind. Und warum nicht der syrischen?

Man sieht fast nur gesunde junge Männer. Wo sind die Frauen, wo die Kinder, wo die Verwundeten und Geschundenen, haben diese Männer keine Eltern? Die Zahl der Ankommenden stagniert, geht zurück? Tatsächlich? Und wenn ja, wie lange?

Kippt die Stimmung? Wie lange wollen wir in Deutschland noch sagen, dass wir alles richtig machen und unsere europäischen Nachbarn sich falsch verhalten?

Kippt die Stimmung? Nur selten gelingt es den Staatsbediensteten, durch ihre Extraleistung die Bürger für sich einzunehmen. Weil die Bürger, die als Freiwillige den Bediensteten über die Schulter sehen, was die hassen, mehr Dienst nach Vorschrift (bekanntlich eine Streikform) als Extraleistung beobachten.

Wenn die Stimmung nicht kippen soll, müssen außergewöhnliche Ideen den Bürgern zeigen, wir schaffen die Riesenaufgaben tatsächlich. Jedenfalls bewegt sich die Gesellschaft in die richtige Richtung.

Vier Ideen dazu:

Erstens: Die deutsche Politik versammelt sich beim Denkmal für die Berliner Luftbrücke und verkündet: Damals halfen uns die Amerikaner, nun helfen wir. Und die anderen Staaten sind aufgefordert, unserem Beispiel zu folgen. Wir starten eine Luftbrücke zu den Flüchtlingen. Wir bringen, was Menschen dort brauchen. Und wir holen diejenigen aus den Lagern, die absehbar keine Chance zur Rückkehr in ihre Heimat Syrien oder Irak  haben, das sind  Christen, Jesiden, aber auch verwundete Schiiten und Sunniten, denen vor Ort nicht geholfen werden kann. Wir praktizieren Familienzusammenführung  in beide Richtungen. Wir versichern den Flüchtlingen, dass der IS ihre Lager nicht erreichen wird. Sie sind dort sicher, das garantieren wir.

Zweitens: Geflüchtete syrische Bauern  bekommen hier bei uns langfristig Land verpachtet und Geld , um Dörfer zu gründen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen.  Leere Dörfer und Land, das abgegeben werden kann, ist schließlich vorhanden. Vorbild sind die Hugenotten in Preußen. Die Dörfer unterscheiden sich nach Religionszugehörigkeit. Christen und Jesiden, deren Chance auf Rückkehr von allen am geringsten ist, werden bevorzugt.

Drittens:Bundesweit könnten die Unternehmen über die Bildungswerke der Unternehmerverbände mehr oder weniger aus dem Stand ein Programm von insgesamt 10 000 Plätzen pro Jahr für junge Geflüchtete entwickeln, mit Ausbildern, Sozialpädagogen, Lehrern.Das wäre ein unschlagbares Angebot, weil es Jugendliche bei ihren Stärken abholt: Lernort Betrieb. Vorbereitung auf die hiesige Arbeitswelt mit der Chance, danach aus dem Betrieb in die duale Ausbildung zu kommen. Es könnten neben Sprache vor allem eine Ahnung von Deutschland, einer offenen Gesellschaft, die diese Offenheit in ihren Werten hat und verteidigt, vermitteln. Wichtig wäre, dazu eine Begleitforschung einzurichten, damit man im Vergleich zu schulischen und außerbetrieblichen Angeboten Fakten vorweisen kann. Vorbild ist das vor ca. drei Jahrzehnten mit der Arbeitsverwaltung durchgeführte Programm Maßnahmen zur beruflichen sozialen Eingliederung (MBSE), das damals anstelle des 10. Schuljahres angeboten wurde. Eine wichtige Erweiterung gegenüber dem MBSE-Ansatz sollte das Programm haben: die Zusammenarbeit von Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit zwei Ansätzen: dem Buddy-Ansatz (Jugendliche 1:1) und den Gastfreunden-Ansatz (Familie zu Familie). Damit wird ein zusätzlicher Anstoß zur Integration gegeben.

 Viertens: Aufnahme, Unterbringung und Beheimatung von Geflüchteten müssen bezahlt werden. Dafür wird die Kirchensteuer aufgehoben und durch eine allgemeine, jeden Einkommensbezieher treffende Sozialsteuer ersetzt.  Das Besondere dabei: Der Bürger kann bestimmen, für welchen Zweck das Geld eingesetzt wird.

Das sind vier Ideen. Fragt man die Bürger breit, kommen viele,viele weitere Ideen hinzu, deren Umsetzung folgen Zielen dient:

  • die Geflüchteten durch Fordern und Fördern schneller sich selbst helfen zu helfen
  • den Strom der Flüchtlinge nach Deutschland zu verringern
  • überfällige Reformen anzustoßen.

Die Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise ist mit Blick auf den Staat Chance und Verführung. Die Chance besteht darin, dass nun schon längst überfällige Reformen und Entrümpelungen vorangetrieben werden und die Verwaltung merkt, dass sie mehr leisten kann, als sie sich selber zutraute. Andererseits droht eine irreversible Ausweitung von Staatlichkeit. Unter dem Stichwort Flüchtling werden allenthalben Zusatzmittel und Zusatzpersonal gefordert. Die vom Bund reichlich gegebenen Mittel werden vielerorts lokal -Beispiele kommen nach und nach ans Licht- alles andere als effizient ausgegeben. Gerade hat der hessische Rechnungshof das Land für die jetzt  mit den Kommunen ausgehandelten Pauschalen kritisiert. Sie seien zu hoch. Der Rechnungshof kommt auf Kosten von 775 Euro je Flüchtling und das Land Hessen will ab 1.1.16 gestaffelt zwischen 865 und 1050 Euro zahlen. Die Gelder werden voll ausgegeben werden, eine Flüchtlingsversorgungsindustrie bildet sich,die ihre Interessen verfolgt.  Die schnelle Entscheidungsnotwendigkeit, unter der Kommunen stehen, wird zu Verwerfungen führen. Und wieder werden die großen Trägern den kleinen vorgezogen, um der schnellen Lösung und des Friedens willen.  Kritik an unnötigen Aussagen im konkreten Einzelfall wie gerade in Mainz-Gonsenheim wird  mit der Keule „Ausländerfeindlichkeit“ niedergehalten, anstatt Anregungen aufzunehmen und Bürger in den Dialog einzubeziehen. Das gilt auch für das Freiwilligen-Management. Investieren staatliche Stellen und Träger nicht an dieser Stelle, kann der gute Wille in Frust umschlagen und eine große Möglichkeit ist vertan.

Dabei war die Chance, dass  Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft  jetzt an dieser Aufgabe gemeinsam wachsen, noch nie so groß.

Mit freundlichen Grüßen

Henning v. Vieregge

 

Deutschland auf hoher See: Zivilgesellschaft an die Ruder. Zur Rolle des BBE.

09 Nov
9. November 2015

Brief 108/November 2015

Guten Tag,

wenn die Kanzlerin sagt „Wir schaffen das“, heißt es erklärend, der Satz müsse ergänzt werden um „aber nicht allein“.Dann ist von Europa die Rede. Der Satz müsste aber auch aus innerdeutscher Sicht ergänzt werden:  „Wir schaffen das (das mit den Asylsuchenden) nicht allein, sondern nur durch  den überwiegend unentgeltlichen Einsatz von Bürgern. Die Zivilgesellschaft ist in die Aussage eingepreist. Und damit auch das BBE.

Die Zivilgesellschaft ist nun endgültig entdeckt. Nicht jeder weiß, was damit gemeint ist, aber sie wird allenthalben beschworen. Demografische Herausforderung? Die Zivilgesellschaft richtet’s. Flüchtlingswillkommen? Wozu haben wir die Zivilgesellschaft?

Als bei Frankfurt eine neue Unterkunft für Flüchtlinge errichtet wurde, waren vier Vollbezahlte und 120 Unbezahlte (oder vom Arbeitgeber Bezahlte und Freigestellte) damit beschäftigt.

Ein Streik der 23 Millionen Freiwilligen im Land würde die Republik lahmlegen wie kein anderer Streik. Aber übergreifend sind die freiwillig tätigen Bürger nicht organisations- und konfliktfähig. Würde man herumfragen, wer deren Interessen vertritt, würde der Name BBE vermutlich kaum fallen. Das BBE ist nicht sehr bekannt im Land. Dabei wäre das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) jedenfalls teilzuständig. Mit dessen Geschäftsführer Ansgar Klein habe ich für den Verbändereport 7/2015 ein ausführliches Interview geführt, das zeigt, dass Jürgen Habermas nicht nur in der Wissenschaft tiefe Spuren hinterlässt.

 

Mit herzlichen Grüßen

Henning v. Vieregge

VR_ansgar klein bbe

Der Alte bleibt im Amt: Geschäftsführer in Verbänden mit Beharrungsvermögen- wie schaffen die das?

09 Okt
9. Oktober 2015

Brief 107/Oktober 2015

Guten Tag,

merkwürdigerweise gibt es für ungeschriebene Briefe keinen anderen treffenderen Ausdruck. Denn der Brief ist ja geschrieben, hat aber keinen speziellen Adressaten.In meinem Fall richtet sich der ungeschriebene Brief an Hauptgeschäftsführer von Verbänden, die schon etwas älter sind und noch gern über die bisher übliche Pensionsgrenze im Job bleiben wollen. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Aber man kann sich doch einige Gedanken dazu machen. Und kommt dann mir nichts dir nichts ins Grundsätzliche: Wie hält man sich im Amt, wie ist die Beziehung zwischen Haupt-und Ehrenamtlichen usw. Jemand, der sich in den Verbänden gut auskennt, sagte, ihm würden mindestens fünf Geschäftsführer einfallen, auf die der Briefinhalt zuträfe. Der Text ist im Verbändereport Nr. 6/2015 erschienen und sei Ihrer freundlichen Aufmerksamkeit empfohlen.

Mit herzlichen Grüßen

Henning v. Vieregge

HGF Brief Alt dienen

 

Erinnerung an meine liebste Großmutter

22 Sep
22. September 2015

Brief 106/September 2015

Guten Tag,

neulich kam in einem Freundeskreis das Gespräch auf die Großmütter. Es gab keinen, der bei diesem Thema nicht ins Schwärmen kam. Ein Freund erzählte, seine Großmutter habe immer mal gesagt, vor der Tür steht ein Bär und brummt. Das habe ihm als kleinem Jungen ungemein gefallen. Denn immer, wenn sie das sagte, habe sie gefurzt.

Die abendliche Runde hat mich animiert, über meine Lieblingsgroßmutter nachzudenken und mir die Frage zu beantworten, warum sie das war.

Ich hatte drei Großmütter und nannte sie Ömi, Großmutti und Großi. Großi war die, die die anderen (meine Eltern) Tante Lisa nannten. Ich wusste, sie war meine Adoptivgroßmutter. Nicht wir haben sie adoptiert, sondern sie mit ihrem Mann meinen Vater, als der klein war. Das aber zählte für mich in keiner Weise.

Von ihren neun Geschwistern erzählte sie mir viel. So, dass jede Schwester einen Passbruder hatte, und die Pärchen schenkten sich zum Geburtstag etwas. Und wenn die Mädchen nicht fügsam waren, gab es Zungi. Das bedeutete, dass der andere mit seiner Zunge der Tadelswerten übers Gesicht fuhr; das war wohl Höchststrafe.

Von dem im 1. Weltkrieg gefallenen Bruder berichtete sie in ihrer lapidaren Art so, dass ich als kleiner Bub mir das merkte. Offenbar machte der Bedauernswerte drei Fehler: Er ging von Mecklenburg weg (nach Hamburg), hatte eine Brille und lernte etwas Kaufmännisches für die Kolonien. Alles drei besiegelte, so verstand ich Großi, sein Schicksal: denn beim Ausbruch des 1. Weltkriegs war er in Afrika, wurde Soldat oder auch nicht,  verlor jedenfalls seine Brille und verlief sich ins feindliche Feuer.Ihre Geschichten knallten einem um die Ohren.

Ihre knappe Art korrespondierte mit ihrer Eile. Sie war immer in Eile. Mit Rückschlägen hielt sie sich nicht lange auf. Sie fuhr einen Daf. Der hatte Automatic, was ihr Arbeit ersparte, und war von einem holländischen Lastwagenhersteller gebaut, ein robuster Kleinwagen also, und das war für sie als  miserable Autofahrerin eine gute Wahl. Einmal –ich meine, sie rauchte und dachte an Vieles, nur nicht ans Autofahren- kamen wir zu weit rechts, landeten gewissermaßen im Kiesbett, der Wagen schleuderte. Nach meiner Erinnerung hat  er sich sogar gedreht und stand auf der anderen Seite in Gegenrichtung, aber das mag eine Nachwürzung der Fantasie zur stärkeren Dramatisierung sein. Mich, ich war vielleicht zehn, erschütterte der Vorfall jedenfalls schon, sie nicht. Während ich noch zitterte, sagte sie so etwas wie Glück gehabt und setzte die Fahrt ohne weiteres fort.

Sie führte einem Herrn v.P. den Haushalt, der hatte einen kleinen Hof in der Marsch bei Bremen gepachtet oder gekauft. Vor der Küche stand ein großer Apfelbaum  Ich sollte die Äpfel pflücken, eine Leiter wurde herbeigeschafft, ich kletterte hoch und fing an. Dummerweise waren die besten Äpfel noch weiter oben. Da traute ich mich nicht hin. Unten stand Großi und rief mir zu, ich solle höher klettern. Es war keine Bitte, sondern eine harsche Aufforderung. Ich erinnere nicht, was ich tat, außer dass ich mich meiner Ängstlichkeit schämte. Und irgendwie stolz war auf eine Großmutter, die keine Angst um ihren Enkel  hatte.

Als Großi mit ihrem Bruder Voß (so wurde er aus mir unbekannten Gründen genannt) in Bonn-Röttgen zusammenzog, waren zwei schnelle Alte unter einem Dach. Beim Essen musste ich mich ranhalten. Denn  die beiden Alten aßen wie im Wettkampf und kaum waren sie fertig, wurden  die Teller abgeräumt. Als ich mich beim Nachtisch über das Tempo  beschwerte, sagte Großi: „Blöde Hunde werden nicht fett“. Ich glaube, ich ahnte damals schon, dass dies ein Leitspruch für mein Leben werden sollte.

Diese Großmutter  war viel schneller als die anderen alten Leute, sie war direkter und  sie forderte. Und sie handelte selber so, wie sie es anderen abverlangte. Ich glaube, sie kam mir deswegen sehr viel moderner vor als alle anderen Familienmitglieder dieser Generation. Ich hatte bei ihr das Gefühl, als junger Mensch ernst genommen zu werden. Hinter der rauen Schale spürte ich  ihre Liebe und freute mich auf die gemeinsame Zeit in Bonn. 1968 im Herbst wechselte ich nämlich von der Bundeswehr dorthin, um mit dem Studieren zu  beginnen. Leider kam ich zu spät. Sie starb einen Monat zuvor.

Mit herzlichen Grüßen

Henning v. Vieregge

 

© Copyright - Henning von Vieregge